Grenzen des Risikos
Riesige Anlagen der Chemie und Kernenergie sind heute für ganze Landstriche eine potentielle Gefahr. Oft weiß die Bevölkerung gar nicht, was alles in einem Werk geschieht bzw. was gelagert,
erzeugt und transportiert wird. Der Anstieg des CO2-Spiegels in der Atmosphäre birgt die Gefahr eines weltweiten Kippens des heiklen Klimagefüges in sich, und die Gen-Technologie flößt uns Angst
ein.
Wie weit darf die potentielle Gefahr steigen? Gibt es Granzen? Wer setzt sie fest?
Zwei Bereiche der Umweltschädigungen:
- Reale Schadwirkungen: Das sind jene Schädigungs- und Zerstörungsvorgänge, die laufend stattfinden bzw. die uns bekannt sind und spürbare Folgen hinterlassen.
- Potentielle Schäden: Hierher zählen jene Schäden, die auf Grund potentieller bzw. noch nicht bekannter Gefahren eintreten können / könnten. Man denke an die potentielle Gefahr eines
Atomkrieges, eines großen Unfalls auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie, an das Risiko mancher besonders gefährlicher Chemiebetriebe oder an die noch nicht abschätzbaren Folgen
der Gentechnik.
In den folgenden Ausführungen soll der zweite Bereich im Mittelpunkt stehen, der Bereich der potentiellen Gefahren (Gefahrenpotenziale), also der Risken.
Unter Risiko versteht man ein gewagtes Unternehmen (Wagnis), d. h. eine Aktivität oder Unterlassung, die den Vorteil sucht, aber auch im Nachteil enden kann.
Risikoarten:
- Unvermeidbare Risken (natürlicher Tod, Naturkatastrophen, Krankheit, Not …) und Risken im Kampf gegen diese Gefahren.
- Notwendige Risken: Wir nehmen sie auf uns, um leben zu können (arbeiten, wirtschaften, wohnen, Ernährung …).
- Veredelnde Risken: Wir gehen sie ein, um unser Leben zu "veredeln" (Erleichterung der Arbeit, Ausflüge, Spiel, Sport, Bildung, Kunst, Unterhaltung …).
- Übertriebene / nicht notwendige Risken: Menschen nehmen sie auf sich, weil sie so gedankenlos dahinleben oder weil sie so gierig und süchtig sind (Luxus, Übermaß an Bequemlichkeit,
Vergnügungssucht, Verbrechen …).
- Große - kleine Risken: Manche Gefahrenpotenziale sind heute im ständigen Wachsen begriffen. Die Wahrscheinlichkeit, dass der potentielle Schaden real wird
(Eintrittswahrscheinlichkeit), kann sehr niedrig bis sehr hoch sein.
- Bewusstes / bekanntes oder unbewusstes Risiko? Es gibt auch das schuldhafte Nicht-Kennen der Gefahr.
Entscheidungsträger - Risikoträger:
Darf ein Einzelner oder eine kleine Gruppe von Entscheidungsträgern eine große andere Gruppe von Menschen ohne schwerwiegenden Grund einem lebensgefährlichen Risiko aussetzen?
- Persönliche Risken: Die Menschen nehmen verschiedene Risken in Kauf. Im Allgemeinen haben zwar die meisten Menschen ein Gespür für Grenzen, aber dieses Gespür ist nicht genormt.
Letztlich ist es auch jedem Menschen, der selber die eventuellen Folgen seines riskanten Verhaltens zu tragen hat, überantwortet, welche Gefahren er auf sich nimmt.
- "Kollektivrisken": Risken, deren eventuelle Folgen sich auf eine größere Gruppe von Menschen auswirken, können allerdings nicht von einzelnen oder einer Gruppe verantwortet werden,
außer die eventuell Betroffenen geben ihr Einverständnis kund. Nur dringende Notwendigkeit wäre ein Grund, auch andere einem schweren Risiko auszusetzen (z.B. diejenigen, die von einem sinkenden
Schiff auf äußerst gefährliche Art gerettet werde sollen, weil eine andere Bergungsart nicht mehr möglich ist).
Risiko der friedlichen Nutzung der Atomenergie:
Umweltschutz ist ein Grundbedürfnis! Notwendig bzw. "erlaubt" ist jenes Wagnis, durch das die Vitalität der belebten Natur, die Naturkreisläufe und die menschliche Gesundheit erhalten bleiben bzw. nicht beeinträchtigt werden. Ist ohne Kernenergie Leben und Kultur unmöglich? Kann die Zivilisation ohne Kernenergie aufrecht erhalten bleiben?
Es gilt als erwiesen, dass durch Mäßigkeit und durch Umstellung unserer Energieversorgung auf Energie aus erneuerbaren Quellen und durch Nutzung der Effizienzpotenziale in den Bereichen Energie
und Verkehr nicht nur die Kernenergie überflüssig ist, sondern auch die Klimaschädlinge Öl, Kohle und Erdgas substituiert werden können.
Gesundheit und Leben stehen auf dem Spiel; das Gefahrenpotenzial ist sehr groß; gefährdet sind nicht nur gegenwärtige, sondern auch künftige Generationen; die Eintrittswahrscheinlich-keit ist
eher klein, steigt aber mit der Zahl der Atomkraftwerke.
Es geht mehr um ein Risikogefühl als um ein Risikobewusstsein. Die wirklichen Gefahren sind weithin wenig bekannt.
Das Kernenergie-Risiko ist ein "verordnetes", wobei zumeist die Risikobetroffenen gar nicht die Vorteile genießen können, weil sie noch gar nicht leben oder in armen Ländern bzw. Schichten leben
und somit sich hohen Energieverbrauch gar nicht leisten können.
Entscheidung durch Experten:
Wenn man Expertenaussagen über die Gefahren der Kernenergienutzung liest, fällt einem auf, dass die Befürworter der Kernenergie die Gefahren zugeben. Am deutlichsten ist das Gefahrenpotenzial aus
den Alarmplänen abzulesen. Bezüglich Gefahr herrscht also weitgehende Einigkeit. Unterschiede ergebnen sich aber in den Wertungen. Die Kernenergiegegner bezeichnen die potentiellen Gefahren als
nicht verantwortbar, die Befürworter hingegen als verantwortbar. Hier muss klargestellt werden, dass der Fachmann nur über die Gefährlichkeit und über die Gefahrenzusammenhänge zu unterrichten
hat. Über die Verantwortbarkeit hingegen haben die Ethikfachleute, die Moraltheologen, die Volksvertreter, die Gesellschaft zu entscheiden. Es geht nicht an, eine ethische Entscheidung (um eine
solche handelt es sich, sobald Gefahren feststehen), die eine so große Bedeutung hat, auf einige Kernenergieexperten und Atomphysiker abzuschieben.
So wie jeder Mensch hat auch der Experte seine persönliche Meinung, eine Weltanschauung, eine Philosophie und Bindungen. So trägt jede Expertise versteckt das Markenzeichen des Verfassers. Daher sind viele Gutachten und Kommentare zu studieren, auch die der Gegenseite. Und die Studierenden müssen sich selber ebenfalls mit dem Problem befassen und sich Grundwissen aneignen, um die Expertisen überhaupt zu verstehen und kritisch beurteilen zu können.
Risikovergleiche:
Befürworter der Kernenergie beklagen sich, dass viele Menschen die Atomenergie ablehnen, aber andere Risken in Kauf nehmen. Um dies zu ändern, versuchen sie zu belegen, dass die Risken der
Kernenergie geringer sind als viele andere natürliche und zivilisatorische Risken. Dabei ergeben sich 3 Diskussionspunkte:
- Die Befürworter der Kernenergie setzen bei ihren Vergleichen voraus, dass die Kernenergienutzung ein notwendiges Wagnis ist. Aus der Sicht der Umweltschützer ist aber dieses Wagnis nicht
notwendig und kann daher nicht mit einem notwendigen Risiko (wie z.B. Fahrt zum Arbeitsplatz) auf eine Stufe gestellt werden.
- Die Befürworter der Kernenergie beziehen ihre Risikoberechnungen hauptsächlich auf Atomkraftwerke. Nach Meinung des Umweltschutzes müsste der gesamte Komplex in die Risikoberechnung mit
einbezogen werden (Wiederaufbereitung, Plutonium, Schnelle Brüter, Abfalllagerung, wachsende Zahl der Anlagen, Anlagen in Entwicklungsländern, wo es keine ausreichenden Sicherheitsstrukturen gibt
…).
- Die Befürworter der Kernenergie verweisen auf die geringe Eintrittswahrscheinlichkeit einer atomaren Katastrophe. Die Umweltschützer aber sind der Meinung, dass ein Risiko mit so hohem
Gefahrenpotenzial (tausende Tote und Geschädigte) von vornherein abzulehnen ist, auch wenn die Eintrittswahrscheinlichkeit gering ist. Weiters verweisen sie auf Quellen, aus denen hervorgeht, die
Berechnungen der Eintrittswahrscheinlichkeit seinen anzuzweifeln.
Schlussfolgerungen:
Dass sowohl im Persönlichen als auch im Kollektiv das Risiko irgendwo Grenzen hat und haben muss, lässt sich schwer leugnen. Manche hoch-riskante Techniken und Stoffe wird man einfach ablehnen
müssen ("verbotene Früchte", AT, Gen. 2,17). Wenn es sich um ein noch nicht hundertprozentig beweisbares, aber umso größeres Risiko handelt (enorme Tragweite, schwerwiegende, irreparable Folgen;
Beispiel Klimaerwärmung), sind ebenso größte Anstrengungen zur Vermeidung dieses Risikos zu unternehmen. In anderen Bereichen wird eine weise Beschränkung ausreichen. Generell hat der Grundsatz
"Wehret den Anfängen!" zu gelten. Wenn bereits ein Anfang gemacht wurde, soll gegen die Weiterverbreitung gekämpft werden. Dieser zweite Grundsatz gilt z.B. im Bereich der Agro-Gentechnik und hat
mit der neuerdings aufkommenden Kernenergiediskussion zusätzliche Bedeutung erlangt.