6. November 2013: Japan rückt nicht von Atomkraft ab  

 

Am Beispiel Japan zeigt sich, wie weltweit die Politik mit der Atomlobby verquickt ist und wie dabei Wirtschaft und Medien eine äußerst fragwürdige Rolle spielen.

 

Bisher gab es nur Beschwichtigungen und Verharmlosung der Gefahren. Nun hat doch ein Vertreter der japanischen Regierung erklärt, dass das 20-km-Sperrgebiet um die vier zerstörten Fukushima-AKWs für immer unbewohnbar sein wird und die 150.000 Menschen, die nach dem SuperGAU evakuiert wurden, nie mehr zurückkehren können.

 

Dennoch hat die Regierung beschlossen, dass die 50 japanischen AKWs, die derzeit wegen Überprüfungen abgeschaltet sind, nach und nach wieder in Betrieb gehen werden und sogar neue Atomkraftwerke gebaut werden.

 

Die fatale Verquickung zwischen Politik einerseits und Atomlobby, Wirtschaft und Medien andererseits wurde auch im Zusammenhang mit dem SuperGAU in Fukushima am 11. März 2011 offenbar. Erst 5 Tage nach der Zerstörung der AKWs 1, 2 und 3 und der schweren Beschädigung des AKWs 4 in der aus sechs AKWs bestehenden Anlage Fukushima Daiichi („Fukushima 1“) durch ein Erdbeben und einen Tsunami verteilten die Behörden Jod-Tabletten an die Kinder und Jugendlichen, und das nicht in einem ausreichend großen Umkreis, sondern nur im 20-Kilometer-Sperrgebiet.

 

In den folgenden Tagen wuchs aber der Protest der Bevölkerung. Und endlich entschied sich die japanische Regierung unter Ministerpräsident Naoto Kan für eine Überprüfung sämtlicher 54 AKWs.  Einige Wochen nach der Kernschmelze in den Blöcken 1, 2 und 3 verharmloste ein Regierungssprecher den Atomunfall immer noch, indem er betonte, in Japan betrage die freigesetzte Radioaktivität nur ein Zehntel dessen, was in Tschernobyl in die Umwelt gelangt sei.

 

Als Reaktion auf die zunehmenden Proteste der Bevölkerung kündigte Regierungschef Kan  dann doch im Juli 2011 an, langfristig aus der Kernenergie aussteigen zu wollen. Um die gleiche Zeit drängte jedoch die Regierung darauf, die zur Inspektion heruntergefahrenen Atomkraftwerke noch im Sommer wieder in Betrieb zu nehmen, um drohende Stromengpässe zu vermeiden. Dies stieß in der Bevölkerung auf Kritik.

 

Im September wurde Yoshihiko Noda neuer Ministerpräsident, der ebenfalls einen langfristigen Ausstieg aus der Kernenergie ankündigte. Zwar sollten bestehende Kernkraftwerke zunächst weiter betrieben werden dürfen, den Neubau von Kernkraftwerken hielt er aber für „unwahrscheinlich“. Zudem plante Noda einen „neuen Energiemix“.

 

In der japanischen Bevölkerung setzte sich aber eine neue Einstellung des Stromsparens durch. Die Menschen machten es sich zur moralischen Pflicht, durch Stromsparen es zu ermöglichen, dass viele Kernreaktoren abgeschaltet bleiben können. Die Angst vor weiteren Beben spielte dabei auch eine wichtige Rolle.

 

Nach und nach wurde ein AKW nach dem anderen vom Netz genommen. Am 26. August 2011 waren noch 18 der ehemals 54 japanischen Atomkraftwerke in Betrieb. Im Dezember 2011 lieferten lediglich 9 Rektoren Strom, und im Februar 2012 waren es nur mehr 2. Im Mai  2012 war erstmals seit den 1970er Jahren keines mehr am Netz. Japan war zwei Monate lang Atomstrom-frei.

 

Aber schon im folgenden Juni machte die Mitte-Links-Regierung unter Ministerpräsident Noda klar, dass aus wirtschaftlichen Gründen – nach Abschluss der Stresstests – der Wiedereinstieg in die Atomenergie bevorstehe. Sie erlaubte, dass zwei Reaktoren wieder ans Netz gehen, und zwar die AKWs Oi 3 und Oi 4.

 

Man hatte aber nicht damit gerechnet, dass der Widerstand in der Bevölkerung so massiv ansteigen würde. Noch dazu kam wenige Tage nach Inbetriebnahme der beiden Reaktoren durch einen Parlamentsbericht zutage, dass in der AKW-Anlage Fukushima internationale Sicherheitsstandards ignoriert worden seien und dass es eine Packelei zwischen Regierungschef Noda einerseits und der Atomaufsicht und dem Betreiber Tepco andererseits gebe. Hinter Noda stünden eine gigantische Nuklearlobby, der mächtige Unternehmerverband Keidanren und die größte Tageszeitung. Ebenso wurde bekannt, dass ein Teil der obersten Atom-Kontrolleure vor dem Atomunfall jahrelang Geld von der Atomindustrie erhalten habe.

 

Noda trat nun die Flucht nach vorne an und machte die Atomfrage zum Wahlkampfthema: Mitte September 2012 verkündete er den Ausstieg aus der Atomenergie bis 2030.

 

Noda wurde aber Ende Dezember 2012 abgewählt. Eine nationalistisch-konservative Regierung unter Shinzo Abe übernahm die Macht und gab sofort zu verstehen, dass – obwohl die Mehrheit der Bevölkerung für den Atomausstieg ist – das Atomprogramm aus wirtschaftlichen Gründen sofort wieder aufgenommen werde.

 

Japan bezog vor dem Unfall in Fukushima ein Drittel seines Strombedarfs aus AKWs und wollte bis 2030 den Atomstromanteil auf 50 % anheben.

 

Entgegen allen Prophezeiungen von Lobbys und Industrie, Japan würde wegen Energieverknappung Wirtschaftsausfälle drohen, gingen nicht in Erfüllung. Als Ersatz werden mehr Kohle, Öl und Gas importiert. Das offizielle Japan drückt sich aber – trotz Steuer- und Investitionsanreize für erneuerbare Energien – weiterhin um eine neue Energiepolitik. Hinter vorgehaltener Hand bleibt es Regierungspolitik, zur Atomenergie zurückzukehren.

 

Im Sommer des heurigen Jahres lenkten neue Fakten die Aufmerksamkeit auf Fukushima. Es ging um die hohe Radioaktivität, die immer noch in Meeresfischen aus der Region um Fukushima gefunden wird, sodass die Experten überzeugt sind, dass aus mindestens zwei der beschädigten Reaktoren Kühlwasser, das vor allem mit radioaktivem Cäsium und Strontium verseucht ist, in den Ozean dringt.

 

Es handelt sich um Wasser, das unentwegt zur Kühlung in die drei Reaktorruinen gepumpt wird. Einerseits muss auf diese Weise verhindert werden, dass die geschmolzenen Brennelemente der Reaktorkerne in den AKWs 1, 2 und 3, die derzeit irgendwo im unteren Bereich der Reaktoren als heiße Klumpen lagern, wieder schmelzen und durch die Anlagenwände offen austreten können. Andererseits müssen jene „abgebrannten“ Brennelemente, die nach der Nutzung in die Lagerbecken („Abklingbecken“) transferiert wurden, ebenfalls gekühlt werden.

 

Um der durch die Kühlung verstrahlten Wassermengen Herr zu werden, hat die Betreiberfirma Tepco seinerzeit in Eile hunderte Tanks aufgestellt.

 

Doch niemand weiß, wie die täglich in den Tanks anwachsende Wassermasse jemals entsorgt werden soll. Außerdem entweicht ein Teil des Kühlwassers, sickert zum Grundwasser und von dort ins Meer. Da aber die Tanks mit möglichst geringem finanziellen Aufwand hergestellt wurden, entstanden Lecks, durch die verstrahltes Wasser austrat und ebenfalls versickerte.

 

Im heurigen August entdeckte man ein solches Leck, durch das möglicherweise 300 Tonnen verstrahltes Wasser ausgetreten war. In der Nähe der Pfützen wurden 100 Millisivert pro Stunde gemessen. Das Problem wurde erst jetzt entdeckt, weil bisher kaum kontrolliert wurde. In einem Tank wurde angeblich zu tiefer Wasserstand festgestellt. Bloß 60 von den 350 Tanks sind mit Messpegeln ausgerüstet. Dazu kam, dass die Messung der Radioaktivität in der Nähe der lecken Tanks mit Geräten vorgenommen wurde, deren Anzeige bei 100 Millisivert endete.

 

Als man andere Messgeräte einsetzte, stellte man fest, dass die Strahlung bereits 1800 Millisivert pro Stunde erreichte. Für einen ungeschützten Menschen ein absolut tödliche Dosis. Und die Messergebnisse stiegen in den folgenden Tagen.

 

Dazu kommt, dass eigentlich niemand weiß, wie ernst die Lage im Innern der Reaktoren ist. Roboter, die Video- und Analysematerial aus dem Innern der zerstörten Anlagen senden sollten, blieben stecken und gingen verloren.

 

Um das Problem des ins Meer abfließenden verstrahlten Wassers in den Griff zu bekommen, kündigte Ministerpräsident Abe am 3. September an, 47 Milliarden Yen (360 Millionen Euro) zur Verfügung zu stellen und einen unterirdischen Ring aus gefrorener Erde um die havarierten AKWs errichten zu lassen. Dieser Ring soll den Grundwasserstrom an der Nuklearanlage vorbeileiten und verhindern, dass verstrahltes Wasser aus dem Ring entweichen kann. Regierungschef Abe war wegen der Olympia-Bewerbung von Tokio für die Sommerspiele 2020 um positives Image bemüht. Am 7. September bekam Tokio den Zuschlag.

 

Am Freitag, den 13. September traf ein Führungsmitglied der Betreiberfirma Tepco bei einem Treffen mit Mitgliedern der oppositionellen Demokratische Partei zur Lage in Fukushima eine Aussage, die Aufsehen erregte: „Ich glaube, dass die gegenwärtige Situation so ist, dass sie nicht unter Kontrolle ist.“ Diese Einschätzung wurde sofort von der Regierung dementiert. Nachdem die japanischen Medien diese Aussage verbreitet hatten, wurde sie von Abes Kabinettchef und von der Firma Tepco relativiert.

 

Am 19. September ordnete Ministerpräsident Abe die Stilllegung der noch intakten Fukushima-Reaktoren 5 und 6 an. Mit diesem Akt setzte die Regierung ein Zeichen an das Internationale Olympische Komitee. Bald darauf wurden die letzten zwei von Japans stromerzeugenden  AKWs (Oi 3 und 4) zu Routineinspektionen heruntergefahren. Derzeit ist kein einziges japanisches AKW in Betrieb.    

 

Japans Regierung und der Betreiber Tepco versichern immer wieder, alles sei unter Kontrolle, obwohl aus Fukushima eine Störungs-Hiobsbotschaft die andere jagt.

 

Der Rückbau der Atomruine wird etwa 40 Jahre dauern – und sehr teuer sein.

 

Trotz der radioaktiven Verseuchung von 30.000 km2 (8 % der Landfläche Japans) und trotz der aussichtslosen Lage der evakuierten Bevölkerung und der zu erwartenden Häufung von gesundheitlichen Spätfolgen – sie werden erst gehäuft nach zehn Jahren auftreten – sorgt die Regierung dafür, dass die Atomindustrie wiederbelebt wird. Japan nimmt nicht nur nach und nach wieder AKWs in Betrieb, sondern baut bereits zwei Reaktoren und plant 10 weitere.