18. Oktober 2015: Das ambivalente Verhältnis zwischen Landwirtschaft und Wachstum
Erntedank ist auch Zeit zum Nachdenken: Sind wir uns dessen bewusst, dass unsere Bauern das Wichtigste erzeugen, nämlich unsere Lebensmittel? Leider hat der Wachstumswahn auch große Teile unserer Landwirtschaft erfasst. Folgen: Überproduktion, Preisverfall, Exportabhängigkeit, leidende Nutztiere, Gifte in der Nahrung, in den Böden und im Grundwasser, verdichtete Böden, Bauernsterben, Ausdünnung des ländlichen Raumes…
Früher ging es in der Landwirtschaft darum, den Hunger der Bevölkerung zu stillen, es ging um Sicherung der Nahrungsmittelversorgung. Dann gelang es, die Erträge zu steigern und durch Einsatz von Maschinen die Arbeit in der Landwirtschaft zu erleichtern. Das brachte Wohlstand, ja sogar Überschüsse.
Das Verhängnis bestand nun darin, dass sich aus der Ertragssteigerung eine Eigendynamik entwickelte, ermöglicht durch Hochzucht und Chemie. Die Ertragssteigerung wurde zum Selbstzweck. Immer mehr pro Hektar bzw. pro Nutztier zu produzieren galt als Ziel der Agrareliten. Die Landwirtschaft entwickelt sich stetig weiter in Richtung Agroindustrie.
Mit dieser Thematik befasste sich auch eine Radiosendung auf Ö1 vom 21. September 2015:1
Erntete man bei Körnermais in den 1980er Jahren 7.000 bis 8.000 kg pro ha, so sind es heute 10.000 kg pro ha. Die durchschnittliche Milchleistung stieg pro Milchkuh in den letzten 25 Jahren von 4.700 auf über 7.000 kg. Die Leistung der Legehennen nahm im selben Zeitraum um ein Viertel zu (von 260 Eiern auf über 320 Eier pro Henne und Jahr), und die Gewichtszunahme der Masthühner stieg sogar um 60 Prozent.
Dies waren eher fragwürdige Fortschritte. Denn: Erwirbt der Bauer ein Hochleistungssaatgut, so muss er auch die dazugehörigen Agrochemikalien kaufen. Hybridsorten liefern hohe Ernteerträge, gelten aber nur für eine Generation, sodass jedes Jahr neues Saatgut erworben werden muss. Die Hochzüchtung der Nutztiere erbrachte unerwünschte Nebenwirkungen. Während sich früher die tierischen Körper selber regulierten, wurde durch Hochzucht die Selbstregulierung vermindert. Dieser Mangel muss durch Maßnahmen von außen kompensiert werden, z. B. durch Optimierung bei Fütterung (Kraftfutter…), Haltung und Management.
Hochleistungsmilchkühe brauchen für eine tägliche Milchleistung von 45 kg zirka 3,2 kg Glucose und Zufütterung von 4 bis 4,5 kg Protein pro Tag (bis zum Verbot kann auch Tiermehl zum Einsatz). Durch diese Änderungen sind die Körper der Kühe hoch belastet (vor allem der Leberstoffwechsel), und Stoffwechselerkrankungen sind die häufige Folge.
Da bei den Legehennen nicht genug Calcium in das Knochengewebe eingelagert werden kann, kommt es zu Knochenschwund. Masthühner leiden unter Schwäche des Herz- und Kreislaufsystems, weil die Kapazität der Atmungsorgane an Grenzen stößt.
Mit zunehmenden Betriebsgrößen verschärfen sich die Probleme, die durch Entkoppelung von pflanzlicher Nahrung und Tierhaltung entstehen. In Viehhöfen fallen die tierischen Ausscheidungen in so großen Mengen an, dass die Ausbringung zur Gefahr fürs Grundwasser wird. Abnahmeverträge mit viehlosen Höfen sind ein Ausweg. Die extrem niedrigen Preise, vor allem bei Milch und Schweinefleisch, führen dazu, dass kleinere Betriebe aufgeben. Durch dieses Bauernsterben werden die Großen noch größer. Lag der Durchschnitt bei den Betriebsgrößen im Jahr 2003 noch bei 39 ha, bewirtschaftete 2013 ein durchschnittlicher Betrieb bereits 44,2 ha.
Auch im Bio-Landbau wird Ertragssteigerung als wichtiges Ziel betrachtet, allerdings auf der Basis schonender Methoden:
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Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit durch Erhaltung des Humus
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Vorbeugender Pflanzenschutz
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Fruchtfolge
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Gezielte organische Düngung
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Vielfalt in der umgebenden Landschaft
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Usw.
Mit 22.000 Biobauern ist Österreich Weltspitze. Unsere Biobauern genießen hohes Ansehen.
Soweit einige wichtige Aussagen der oben genannten Radiosendung.
Die Unzufriedenheit der Bauern zeigt, dass die Landwirtschaft vor einem Wendepunkt steht
Dass die gesamte Landwirtschaft ökologisiert werden muss, sollte klar sein. Ebenso, dass die Arbeit der Bauern gerecht belohnt werden sollte, was nur über höhere Preise für landwirtschaftliche Produkte möglich sein wird.
Aber das Streben nach Produktionswachstum geht nicht nur von den Agroeliten und von den Forschern und Züchtern aus, sondern auch von den Bauern selber. So wie jeder Mensch stolz ist auf seine Leistung, so ist es auch der Bauer. Er freut sich über steigende Erträge.
In früheren Zeiten war zufriedenstellender Ertrag lebensrettend. Heute aber herrschen Überproduktion und als Folge Preisverfall. Weitere Steigerung schlägt wie ein Bumerang auf die Bauern zurück. Somit steht die konventionelle Landwirtschaft vor einem Wendepunkt.
Beispiel Milch:
Seit 1978 durften die österreichischen Bauern nur so viel Milch an ihre Molkereinen liefern, wie ihnen die Republik an Kontingent zugestanden hatte, um die hochsubventionierten „Milchseen“ und „Butterberge“ zu beseitigen. 1995 erfolgte mit dem EU-Beitritt der Übergang auf das Quotensystem der EU. Seither wurde diese Marktordnung mehrmals gelockert. Seit fast 10 Jahren sind die Milchbauern und Molkereien dam Weltmarkt ausgesetzt.
Das Gebirgsland Österreich braucht die Milchwirtschaft, weil durch sie die Landschaft gepflegt wird und Kaufkraft auch in entlegenen Regionen erhalten bleibt. Österreichs Bergbauern wurden die schwierigen Produktionsbedingungen und Kostennachteile durch Förderungen teilweise ausgeglichen.
Der Neoliberalismus sagt aber, dass der Markt die Probleme löst. Und auch in der Bauernschaft gab und gibt es viele Gegner der Quote und der Strafzahlungen für Quotenüberschreitungen. So endete mit 31. März dieses Jahres in der EU die „Milchquote“, also die garantierte Produktions- und Liefermenge pro Bauer. Ab 1. April 2015 musste Österreichs Milch am internationalen Markt bestehen. Es folgte ein Mengenwettlauf sondergleichen. Die Überschussproduktion führte zum Preissturz. Verschlimmert wurde diese Situation durch das Russland-Embargo – und auch durch die schwächere Nachfrage in China.
Die Wut der Milchbauern entlud sich in Brüssel bei einer Großdemonstration am 7. September d. J. Hatten die Agrarminister der EU bei der
Begrüßungszeremonie noch in die Kameras gelacht, so verging ihnen das Lachen, als die Bauern für faire Preise und Marktregeln protestierten und Strohballen in Brand setzten. Daraufhin beschlossen
die Agrarminister ein Sofortprogramm:
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500 Millionen Euro Soforthilfe.
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400 Millionen Euro Umschichtung von den Strafen, die die EU-Bauern im Jahr 2014 wegen Überproduktionen leisten müssen (Österreich: 47 Millionen Euro).
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Wenn der Milchpreis unter 22 Cent sinkt, kauft die EU Ware auf.
Dieses Hilfspaket vermochte den Bauernfrust nicht zu beruhigen. Dennoch ließ der neoliberale EU-Agrarkommissar Phil Hogan keinen Zweifel daran, dass der Markt nicht mehr beschränkt werde. Er verweigerte die verpflichtende Kürzung der Produktion. Die Milchverarbeiter (Molkereien…) sollten sich um zusätzliche Exportmärkte kümmern, forderte er.
Österreichs Agrarexperten beruhigten: Seit dem EU-Beitritt sei die Milchliefermenge der österreichischen Bauern von 2,2 Millionen Tonnen auf 3 Millionen Tonnen gestiegen. Man habe diesen Anstieg bewältigt.2
Wie soll es weitergehen?
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Abschottung gegen Billigimporte? Das wäre auch ein Schlag gegen die Milchexporte. Immerhin liefern unsere Bauern um ca. 50 Prozent mehr Milch, als in Österreich gebraucht wird.3
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Einlagerung von Überschüssen? Was ist, wenn die Lager voll sind und die Ware dennoch auf den Markt muss?
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Subventionierte Exporte in die Dritte Welt? Diese unmoralische Methode ist bereits heute üblich. Europa zerstört damit die gewachsenen Agrarstrukturen der armen Länder und destabilisiert dadurch diese Länder. Der afrikanische Flüchtlingsstrom nach Europa hat hier eine seiner Ursachen.
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Mit Qualitätsprodukten (Bioprodukte) Marktnischen nutzen? Aber auch diese Nischen können nicht unbegrenzt wachsen!
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Größere Produktvielfalt für die Endkunden? Auch diese Nische kann nicht überstrapaziert werden!
Beschränkung und Ökologisierung als Ausweg
„Die EU muss ihre Agrarfabriken in ethisch und ökologisch vertretbare Dimensionen bringen und so den Wachstums- und Kostenwettlauf zähmen. Diese Massen- und diese Billigproduktion sind eine Schande.“4
„Neben der Industrie ist es vor allem die Landwirtschaft, die gut beraten ist, von ressourcenverbrauchender Intensivnutzung auf nachhaltiges Wirtschaften umzustellen.“5
„Wir lassen zu, dass die landwirtschaftliche Produktion ungebremst steigt, ohne Rücksicht darauf, ob die Lebensmittel überhaupt gebraucht, die Tiere halbwegs artgerecht gehalten werden und die in der Landwirtschaft Beschäftigten menschenwürdig leben können (Saisonarbeiter!).“6
Schade, dass die gängige Nationalökonomie so wenig zum Ausdruck bringt, welch essentielle Bedeutung die Landwirtschaft hat
Diese Nationalökonomie gibt die Größe des BIP in Geldwert an und orientiert sich bei der Bewertung der einzelnen Sektoren am Marktpreis. Das heißt, Produkte bzw. Dienste, die auf dem Markt einen hohen Preis erzielen, scheinen im BIP als große volkswirtschaftliche Leistungen auf, während sich Produkte und Dienste mit niedrigem Marktwert als kleine Beiträge zum BIP zu Buche schlagen. So liegt der Anteil der österreichischen Land- und Forstwirtschaft am BIP offiziell unter 2 %, obwohl unsere Bauern das Wichtigste erzeugen, nämlich unsere Lebensmittel. Viele Bereiche wie Fürsorge, Pflege von Angehörigen, Erziehungsarbeit der Eltern und ehrenamtliche Dienste sind nur begrenzt oder überhaupt nicht marktfähig bzw. nicht marktpräsent und scheinen daher im BIP kaum oder gar nicht auf. Aber Autorowdys, die zur Behebung der häufigen Blech- und Motorschäden die Dienste von Mechanikern in Anspruch nehmen, steigern den Wert des BIP.
1 Radiosender Ö1, 19.05 Uhr, Sendereihe „Dimensionen – Die Welt der Wissenschaft“, Sendungstitel „Codewort Ertragssteigerung – Das ambivalente Verhältnis von Landwirtschaft und Wachstum“
2 Oberösterreichische Nachrichten (OÖN) vom 11. März 2015, Seite 7
3 und 4 OÖN vom 8. September 2015, Seite 6, Leitartikel von Josef Lehner
5 Salzburger Nachrichten vom 6. November 2014, Seite 22, Artikel von Bernhard Schregelmann
6 OÖN vom 11. April 2015, Seite 8, Leserbrief von Beatrix Lugmayer