15. Februar 2020: Aktivisten aus Warschau demonstrieren für Atomstrom – in Deutschland

 

Etwa 150 Aktivisten sind beim Atomkraftwerk Philippsburg zusammengekommen, um ein sogenanntes Abschaltfest zu feiern. Der Block 2 dieses Atomkraftwerkes, das sich im Landkreis Karlsruhe des Bundeslandes Baden-Württemberg befindet, wird nämlich vom Netz gehen – ganz im Sinne des Atomausstiegs. Bis 2022 sollen stufenweise alle deutschen Atomkraftwerke abgeschaltet werden.

 

Aber längst nicht allen ist zum Feiern zumute. Es ist nämlich auch eine Gruppe polnischer Atomenergiebefürworter anwesend, um auf die Gefahren der deutschen Energiewende hinzuweisen. Sie befürworten Atomkraft für die Rettung des Klimas. Die deutsche Klimapolitik nennen sie eine „Heuchelei“.

 

Die Polin Urszula Kuczynska ist Befürworterin der Atomenergie und mit ihren polnischen Mitstreitern hier beim deutschen Atomkraftwerk Philippsburg, um darauf hinzuweisen, dass mit jedem Atomkraftwerk, das vom Netz geht, die Klimakatastrophe einen Schritt näher rückt. Wie auch die Demonstranten von Fridays for Future fordern sie eine Abkehr von fossilen Brennstoffen und einen massiven Ausbau erneuerbarer Energie, um den globalen Temperaturanstieg zu begrenzen – mit dem Unterschied, dass die polnischen Aktivisten glauben, dass das alles nichts bringt, wenn Deutschland sich gleichzeitig von der Kernenergie verabschiedet.

 

Die Energiewende – den Ausstieg aus der Kohleverstromung und aus der Atomkraft – halten sie für nicht umsetzbar, mehr noch: Sie begreifen die deutsche Klimapolitik als eine Gefahr für Polen.

 

Deswegen wollen sie weiter in Deutschland protestieren. Sie haben einen offenen Brief verfasst, in dem sie die Bundesregierung dazu auffordern, den Atomausstieg zu überdenken. Er wurde von mehr als hundert polnischen Wissenschaftern und Experten unterzeichnet.

 

„Die Energiewende ist für mich eine große Heuchelei“, sagt Klimaaktivistin Kuczynska. In Warschau tritt die 37-Jährige für erneuerbare Energien ein. Denn 79 Prozent des polnischen Energiemixes entfallen auf Kohlekraft. Entsprechend schlecht ist die Luftqualität in polnischen Großstädten. Nicht nur wegen der vielen Autos, sondern auch wegen der Tatsache, dass in etlichen Haushalten Kohle verheizt wird.

 

Kuczynska will verhindern, dass die Luft noch schlechter wird. Aber es sei eben auch wichtig, sagt sie, gegen die Energiewende in Deutschland zu protestieren. Sie glaubt nicht, dass Deutschland seinen Energiebedarf – wenn es nicht Wachstum und Konsum abschwort – mit Wind und Sonne decken kann. Es wird zunehmend auf Energieimporte angewiesen sein, wie das Beispiel Philippsburg zeigt.

 

Das Atomkraftwerk Philippsburg hat ein Sechstel des Stroms in Baden-Württemberg geliefert. Diese Lücke, so hieß es sofort aus dem Stuttgarter Umweltministerium, solle mitunter mit Zukäufen aus Frankreich geschlossen werden, wo hauptsächlich Atomstrom in die Netze gespeist wird.

 

Zukäufe aus dem Ausland: Das ist Kuczynskas Angst. Sie schüttelt den Kopf und erzählt, dass bereits 2011 und 2012 die Stromproduktion in Polen gestiegen sei, um dem Bedarf in Deutschland nachzukommen.

 

Die Aktivistin hat mehrere Jahre für einen großen polnischen Energiekonzern gearbeitet. Sie hat viele Beispiele parat. Wenn wie geplant weitere deutsche Atomkraftwerke abgeschaltet werden, gehen die Aktivisten davon aus, dass die Anlagen in ihrer Heimat auf Hochtouren laufen müssen und die Luft noch schlechter wird. Der schmutzige Kohlestrom käme dann eben aus Polen, aber er bliebe schmutzig.

 

Das ist es, was Kuczynaska „Heuchelei“ nennt. Sie zählt zum harten Kern von der polnischen Pro-Atomenergie-Initiative. Gegründet wurde die Gruppe vor drei Jahren von dem Umweltanwalt und Philosophen Andrzej Gasiorowski. Der 44-Jährige legt dar, was sich in seinen Augen ändern muss, um die Klimakatastrophe abzuwenden. Gegen den Bau eines Atomkraftwerkes in Polen hätte er nichts einzuwenden, aber es geht ihm in erster Linie darum, dass bestehende Kernkraftwerke in Europa nicht vom Netz genommen werden. „Natürlich ist Atomkraft kein Allheilmittel und kann nicht die einzige Antwort auf den Klimawandel sein“, sagt er. Aber sie sei ein wichtiger Teil der Lösung.

 

Wohin mit dem Atommüll? Das weiß auch Gasiorowski nicht. Aber das drängendere Problem sei nun einmal der Klimawandel. Er bezieht sich auf den Weltklimarat, der Atomenergie als emissionsarme Alternative auch nicht kategorisch ausschließt, und fragt sich, warum die Klimabewegung in Deutschland das nicht sehen will. Gasiorowski wünscht sich mehr Pragmatismus in der Debatte. Dazu möchte er mit seiner Organisation beitragen, am besten gleich europaweit.

 

Zwar ist auch die polnische Klimabewegung in Sachen Atomenergie gespalten. Nicht für alle ist die Atomenergie das kleinere Übel.

 

Nun wollen die polnischen Aktivisten dem deutschen Botschafter in Warschau eine Liste mit ihren Forderungen überreichen. „Wir wollen keinen Konflikt und auch nicht zu belehrend auftreten. Aber die Verringerung vom Emissionsausstößen muss Priorität haben“, sagt Andrzej Gasiorowski.

 

 

Quelle: Ausschnitte aus dem Zeitungsartikel „Atomkraft für das Klima“ von Philipp Fritz in den Salzburger Nachrichten vom 15. Februar 2020