14. August 2019: Europa und USA müssen von anderen lernen

 

 

Einerseits holzt Brasilien den Regenwald ab, um Weideflächen für Vieh und Felder für den Soja-Anbau zu gewinnen. Wir andererseits importieren billig landwirtschaftliche Produkte und andere Rohstoffe aus den armen Staaten und exportieren vor allem klimaschädliche Stoffe in enormer Menge und Wohlstandsmüll jeglicher Art. Wir, die Bessergestellten, leben auf Kosten der übrigen Menschheit. 

 

Die „Dritte Welt“ hatte für viele stets den Beiklang von „drittrangig“. Tatsächlich verstand sich die entwickelte Welt selbstverständlich als Maßstab für die zu entwickelnden Staaten. Mittlerweile wächst die Skepsis, ob unser Modell von Moderne wirklich globalisierungsfähig ist. Wir haben es mit einem Wirtschaftssystem zu tun, das soziale Gräben aufreißt und die Ressourcen des Planteten plündert.

 

Offensichtlich haben Europäer und US-Amerikaner jetzt von anderen zu lernen – vom kleinen Himalayastaat Bhutan zum Beispiel, der anstelle des Bruttonationalprodukts (Prinzip: Wachstum) ein Bruttonationalglück (Kennziffern: Kultur und Natur) propagiert; oder von den Ureinwohnern der lateinamerikanischen Länder, die ein „gutes Leben“ anstelle ständiger Fortschritts-Fortschreibung wollen.

 

 

Rückblick: Als die Welt noch dreigeteilt war

 

Von der „Dritten Welt“ ist längst nicht mehr die Rede. Das Ende des Ost-West-Konflikts 1989/1991 bedeutete auch das „Ende der Dritten Welt“. Seit dem Zerfall des Ostblocks hatte die gewohnte Dreiteilung der Welt keinen Sinn mehr – mit der Ersten Welt (kapitalistisch) und einer Zweiten Welt (kommunistisch) sowie einer Gruppe von Ländern dazwischen, die keinem der beiden Blöcke angehörten. Diese versuchten, mit der 1955 auf der Konferenz von Bandung ins Leben gerufenen Blockfreien-Bewegung, angeführt von Politikern wie Indiens Premier Nehru und dem indonesischen Präsidenten Sukarno zu einer „dritten Kraft“ in der Weltpolitik zu werden. Aber sobald es die beiden Blöcke nicht mehr gab, hatte sich auch die Blockfreien-Bewegung überlebt.

 

 

Heute sprechen wir von der „Einen Welt“

 

Mit der „Einen Welt“ beschreiben wir einen Planeten, dessen Bewohner stärker vernetzt sind denn je. Eine neue Welle der Globalisierung hat zu einer massiven wirtschaftlichen Verflechtung und einer ausgeprägten internationalen Arbeitsteilung geführt. Weltumspannende Transportsysteme sorgen dafür, dass wir jeden Punkt der Erde selbst erreichen können. Eine Kommunikationsrevolution bewirkt, dass Menschen einander mittlerweile weltweit beobachten können. Nachrichten und soziale Netzwerke im Internet lassen jeden Erdenbürger wissen, wie es in den Zentren und an den Rändern der Welt ausschaut. Eine Vielzahl grenzüberschreitender, globaler Probleme vom Klimawandel bis zur Migration evoziert ebenfalls die Vorstellung von der „Einen Welt“. Dieser Begriff lässt sich folglich normativ verstehen – also als Aufruf, dass die Menschheit nur gemeinsam das Überleben des Planeten und ein friedliches, faires Miteinander erreichen könne.

 

„Die ganze Welt scheint zu einem Dorf zu werden, in dem alle mit allen vernetzt sind und an allen Gütern und Gefahren teilhaben,“ konstatiert der Historiker Ewald Frie in seiner “Geschichte der Welt“. Doch ein genauerer Blick zeige, dass wir in Wahrheit nicht in einem globalen Dorf lebten, wo alle alles teilten. Der Welthandel sei nicht überall; und da, wo er stattfinde, wirke er sich ungleich auf die Menschen aus: Einem kleinen Teil gehe es sehr gut, viele andere aber würden ins Elend gestürzt.

 

Die Erzeugnisse von Bauern in Afrika oder Lateinamerika sind heute viel weniger wert als in den 1950er Jahren, verglichen mit den teuren Industriegütern, die aus anderen Ländern eingeführt werden müssen. Diese ungleichen Austauschverhältnisse sind eine späte Folge der Kolonialismus-Ära, in welcher die Europäer die unterworfenen Völker in Übersee meist auf die Rolle von Lieferanten bestimmter Rohstoffe reduziert haben.

 

 

In den Slums mangelt es oft an allem

 

„Wir leben in einer globalen Megacity“, stellt der Historiker Ewald Frie fest. In ihren Zentren sei die Infrastruktur nahezu perfekt. In ihren Slums aber mangele es oft an allem, was das Leben in den Zentren lebenswert mache, von der sozialen Versorgung bis zur Sicherheit.

 

Die Welt ist heue multipolar – mit einer Vielzahl von Zentren. Es gibt noch immer den Nord-Süd-Konflikt, von dem in den 1970er Jahren viel gesprochen worden ist; eine „Neue Wirtschaftsordnung“ ist seiner zeit eine heftig umstrittene Forderung gewesen.

 

Doch im Norden zeigen sich immer mehr Risse (siehe die Differenzen zwischen den USA und Europa). Zugleich ist unklar, wer die Stimme des „globalen Südens“ sein soll. Ex-Entwicklungsländer wie China und Indien sind dank Globalisierung zu großen Mächten geworden.

 

 

Neuerlich ist eine Dreiteilung der Welt zu erkennen 

 

  • Industriestaaten (OECD),

  • Industriestaaten und Schwellenländer, beide vereint in der G20

  • sowie eine große Gruppe von armen Staaten („Dritte Welt“).

 

Diese „Dritte Welt“ hatte für viele stets den Beiklang von „drittrangig“. Tatsächlich verstand sich die entwickelte Welt selbstverständlich als Maßstab für die zu entwickelnden Staaten. Mittlerweile wächst die Skepsis, ob unser Modell von Moderne wirklich globalisierungsfähig ist. Wir haben es mit einem Wirtschaftssystem zu tun, das soziale Gräben aufreißt und die Ressourcen des Planeten plündert. Offensichtlich haben Europäer und US-Amerikaner jetzt von anderen zu lernen. Siehe oben – in roter Farbe!

 

 

 

Quelle: Helmut L. Müller, „Ist unser Modell globalisierungsfähig?“, Zeitungsartikel in den Salzburger Nachrichten vom 14. August 2019. Die geringfügigen Änderungen gegenüber dem Originaltext (z.B. dass wichtige Aussagen, die sich im Original am Schluss befinden, im vorliegenden Text an den Anfang gesetzt wurden) betreffen in keinster Weise den Inhalt.