26. April 2014: Super-GAU in Tschernobyl vor 28 Jahren

 

Dass es trotz Tschernobyl und Fukushima Anhänger der Atomenergie gibt, dass es Bauern gibt, die weiterhin umstrittene Nervengifte als Pflanzenschutzmittel verwenden wollen und dass es immer noch Ökonomen gibt, die meinen, der Markt werde alle Probleme lösen, hat vor allem eine Ursache: Man tut sich schwer, von Gewohnten und Eingefahrenem abzulassen. Dazu gesellt sich ein gefährliches Quartett: Profit- und Machtinteressen von Konzernen, Erfolgszwang bei den Politikern, Borniertheit, Karrieresucht und/oder Naivität von Wissenschaftern und Unwissenheit bei Politikern und Bevölkerung.

  

Vor dem Super-GAU im ukrainischen AKW Tschernobyl am 26. April 1986 waren die meisten Politiker von der weitgehenden Beherrschbarkeit der Atomtechnik überzeugt. Das Abfallproblem werde man sicher lösen, hieß es. Die österreichische Bevölkerung hatte hingegen schon im Fall Zwentendorf ein gutes Gespür dafür, dass es sich hier um eine Risikotechnologie handelt, die nicht absolut beherrschbar sein wird. Der Volksabstimmung im November 1978 ging eine massive Pro-Atom-Werbekampagne voraus. Dennoch entschied sich Österreichs Bevölkerung mit knapper Mehrheit von 50,47 % gegen die Atomenergie. Bald darauf begannen aber die Gewerkschaft Bau und Holz und die Elektrizitätswirtschaft mit einem neuen Werbefeldzug für die Atomenergie. Erst ab dem Unfall in Tschernobyl kehrte Ruhe ein. Österreichs Politik reagierte mit dem Beschluss des Atomsperrvertrags.

 

In dem einst so stolzen sowjetischen AKW Tschernobyl mit seinen vier graphitmoderierten, wassergekühlten Druckröhren-Siedewasser-Reaktoren (Block 5 in Bau, Block 6 in Planung) kam es im Block 4 während eines Experiments zur Überhitzung, wodurch sich Wasserstoff bildete, der eine gewaltige Knallgasexplosion verursachte. 14 Tage brannte der Graphit des Reaktors. Die aus dem geborstenen Reaktorgebäude aufsteigenden Flammen wirbelten mindestens 400 verschiedene Arten von radioaktiven Stäuben und Dämpfen in die Atmosphäre. Dabei wurde 500 Mal so viel strahlendes Material freigesetzt wie bei der Atombombenexplosion 1945 in Hiroshima (In Hiroshima war die mit der Atombombenexplosion unmittelbar verbundene Gamma-, Neutronen- und Hitzestrahlung allerdings wesentlich stärker!).

 

Zu Beginn der Reaktorkatastrophe und in unmittelbarer Nähe des Unfallreaktors war die Strahlung am intensivsten. Die Feuerwehrmänner der ersten Stunden starben schon nach wenigen Tagen. Erst am 28. April wurde die drei Kilometer vom Reaktor entfernte 50.000-Einwohner-Stadt Pripyat mit mehr als 1.000 Bussen evakuiert – für viele zu spät, denn für sie begann sich ab diesem Zeitpunkt die Todeskrankheit ihres Körpers zu bemächtigen. Von den hunderttausenden Einsatzkräften, den so genannte „Liquidatoren“, die für Aufräumarbeiten und für die Beton-Ummantelung des AKW („Sarkophag“) eingesetzt wurden, starben früher oder später viele an den Folgen der Strahlung.

 

Der radioaktive Fallout verseuchte ein riesiges Gebiet um das Unfall-AKW. Da der Wind aus Südost auffrischte, zog die unsichtbare radioaktive Wolke über die nahe Grenze nach Weißrussland. Aus einer lange geheim gehaltenen Karte geht hervor, dass die extrem hohe radioaktive Kontamination sich über 7.000 km2 in Weißrussland ausdehnte. Weiters wurden über 2.000 km2 in der Russischen Föderation radioaktiv verseucht und 1.500 km2 in der Ukraine. Unter nachlassender Strahlungsintensität zog die expandierende radioaktive Wolke über weite Teile Europas – auch über Österreich – und schließlich einige Male um die ganze Welt. Wo es durch Niederschlag zu Auswaschung von radioaktivem Fallout kam, war die Kontamination des Bodens entsprechend hoch. 

 

Die riesigen verseuchten Gebiete – vor allem in Weißrussland – zu dekontaminieren war unmöglich, so viele Einwohner umzusiedeln ebenso. Ein Teil derer, die aus den stark kontaminierten Gebieten evakuiert worden waren, kehrten wegen der Hoffnungslosigkeit ihrer Lage in ihre „Heimatorte“ zurück. Sogar in der 30-km-Sperrzone um den Havarie-Reaktor leben heute „Heimkehrer“. 360 Siedler sind registriert, zumeist ältere Menschen. Inoffiziell sollen es mehr sein. Bis 2000 waren die Blöcke 1, 2 und 3 in Betrieb und mussten von Arbeitern bedient werden. Etwa 4.000 Menschen – Forst- und Straßenarbeiter, Fahrer, Elektriker, Fremdenführer – arbeiten heute  in diesem Sperrgebiet in einer Zwei-Wochen-Schicht. Wichtiger als das Risiko, an Krebs zu erkranken, ist Ihnen der Arbeitsplatz. Einmal im Jahr müssen sie zur Kontrolle in die Klinik.

 

 

 

Die Ukraine hofft auf viele Besucher der Sperrzone. Das nun verwilderte Land mit einst 76 Dörfern und der Stadt Pripyat ist für tausende Jahre unbewohnbar. An Landwirtschaft ist nicht zu denken. Vor allem das schwere, hochgiftige, radioaktive Element Plutonium wurde bei der Explosion des Reaktors in die unmittelbare Umgebung geschleudert. Der vergiftete „rote Wald“ in der Nähe hat traurige Berühmtheit erlangt.

 

Siechtum gibt es in allen drei betroffenen Ländern der ehemaligen Sowjetunion, vor allem aber in Weißrussland: Leukämie, Schilddrüsenkrebs, Kindersterblichkeit, Fehlgeburten und Kinder, die mit einer Behinderung geboren wurden/werden. Hinzu kommt eine neue Form von allgemeiner Immunschwäche, die von Experten als „Tschernobyl-Aids“ bezeichnet wird. Man schätzt, dass in Weißrussland rund 28.000 Kinder mit Behinderung leben. Die Menschen sind entweder zu arm, um auf die verseuchten Lebensmittel verzichten zu können, oder sie wollen auf den Verzehr nicht verzichten.

 

Am gefährlichsten sind die radioaktiven Isotope Cäsium, Jod, Plutonium und Strontium. Das kurzlebige und dafür stark strahlende Jod-131 (8 Tage Halbwertszeit HZ) lagert sich in der Schilddrüse ein. Die längerlebigen Radioisotope Cäsium-137 (30 Jahre HZ) und Strontium-90 (28 Jahre HZ) sind selbst in Österreich noch heute in den Böden nachweisbar. Auf die Gefährlichkeit von Plutonium wurde bereits oben hingewiesen. Es ist ein Schwermetall, das in der Natur nicht vorkommt, extrem giftig ist und als Alpha-Strahler vor allem dann seine gefährliche Wirkung entfalten kann, wenn es im Körper eingelagert wird. Das Plutonium-Isotop PU-239 hat außerdem eine extrem lange HZ von 24.000 Jahren.

 

Bisher starben als Folge der Atomkatastrophe in Tschernobyl – je nachdem, ob es sich um behördliche Angaben oder um Schätzungen von Atomkraftgegnern handelt – zwischen 10.000 und 250.000 Menschen. Im Tschernobyl Informationszentrum vor Ort spricht man von 100.000 Toten. Offiziell wurden 4.000 Fälle von Schilddrüsenkrebs registriert. Die Dunkelziffer dürfte jedoch viel höher liegen. Der Höhepunkt der Erkrankungen trat knapp zehn Jahre nach dem Super-GAU in den Jahren 1995 bis 2000 auf. Kürzlich vorgenommene Untersuchungen von Greenpeace in der Umgebung des zerstörten Atomkraftwerkes ergaben, dass bei fast allen Milchproben bei Cäsium-137 der Grenzwert für Kinder teils um das 16-Fache überschritten wurde.

 

Bis 1990 gelang es den Regierenden der damaligen Noch-Sowjetunion, das wahre Ausmaß der Katastrophe zu verschleiern. Die internationale Atomlobby, aber auch willfährige sowjetische Wissenschafter halfen dabei mit. Als sich immer mehr Bürgerwiderstand regte und lokale Politiker mit der schrecklichen Wahrheit herausrückten, mussten die politische Führung und die zentralen Medien nachgeben, und die entsetzlichen Details kamen ans Tageslicht. Seither wird in den jährlichen Gedenkfeiern der unzähligen Toten gedacht, aber zugleich von höchster russischer und ukrainischer Stelle ein Bekenntnis zur Atomkraft ausgesprochen. Russland plant zusätzlich zu seinen 33 Reaktoren bis 2020 neue Blöcke ans Netz zu schließen. Insgesamt sind 11 im Bau und 14 in Planung. Die Ukraine betreibt 15 Reaktoren und baut zwei neue. Der letzte der 4 Blöcke in Tschernobyl wurde im Jahr 2000 vom Netz genommen. Weißrussland will bis 2018 den ersten Kernreaktor bauen lassen und plant zwei weitere.

Bild: Salzburger Nachrichten

 

Das zerstörte AKW wurde mit Beton ummantelt ("Sarkophag"). Dieser Mantel weist allerdings schon Schäden auf, sodass eine neue Schutzhülle errichtet werden muss.

 

 

 

Das Märchen vom billigen Atomstrom

 

Jahrzehnte wurde uns eingeredet, Atomkraftwerke seine sicher und umweltfreundlich und Atomstrom sei billig. Eine umfassende Kostenberechnung ergibt, dass Atomstrom der teuerste Strom überhaupt ist:

1)      AKWs sind viel zu niedrig versichert. So sind z. B. In Tschechien bei einem Atom-Unfall vom Betreiber höchstens 360 Millionen Euro zu leisten, in Großbritannien nur 157 Millionen Euro. Das heißt, ein SuperGAU in einem Atomkraftwerk gilt als nationale Katastrophe, die Kosten sind weitestgehend von der Allgemeinheit zu tragen (Es verstößt eigentlich auch gegen EU-Recht, wenn Atomstrom von den Staaten wettbewerbsverzerrend zum Nachteil anderer Energieträger subventioniert wird). Die AKW-Betreiber müssten, um das enorme Risiko abzusichern, millionenhohe jährliche Versicherungsprämien zahlen. Die Atomkatastrophe in Fukushima verursachte bisher Kosten von rund 45 Milliarden Euro, die Lasten durch die Katastrophe in Tschernobyl werden mittlerweile auf 1,37 Billionen Euro geschätzt. (OÖN 9. 2. 2013).

2)      Bei Atomstrom gibt es auch ein Vorher und ein Nachher, die in der Öffentlichkeit kaum beachtet werden. Uranabbau und Uranaufbereitung geschieht in der Regel in Entwicklungsländern unter extrem gesundheitsgefährdenden und ausbeuterischen Verhältnissen. Die Kosten des Abwrackens von Atomanlagen sind nicht überschaubar. Atomstrom hat außerdem einen langen, extrem teuren Rattenschwanz, nämlich die Atommüll-Endlagerung.

3)      Die Errichtung neuer AKWs verursacht heute wesentlich höhere Kosten als früher, weil mehr auf Sicherheit geachtet werden muss.    

 

Es ist ein Irrtum zu glauben, mit Atomenergie werde man unabhängiger von Energieimporten, vor allem bei Öl und Gas. Denn bei der Gewinnung von Uran, bei der Belieferung mit Brennelementen, bei der Errichtung der atomaren Anlagen und bei der Wiederaufbereitung der abgebrannten Brennelemente sind die meisten Staaten ebenso abhängig von wenigen Anbietern.

 

Die Zukunft liegt nicht bei den nuklearen Mega-Energieklötzen, in deren Umgebung man ständig in der Angst leben muss, dass etwas passiert. Die Zukunft sind dezentrale Anlagen,  die mit regionaler Wertschöpfung auf der Basis erneuerbarer Energiequellen nachhaltig produzieren, ohne unwägbare Risiken und Folgekosten. Die erneuerbaren Energien bräuchten nur, um die Rentabilität zu steigern, ein wenig von den Fördermitteln, die noch immer in die Kernkraft fließen.