26. April 2021: Vor 35 Jahren passierte die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl (in der Nähe von Prypiat in der Ukraine, nahe Weißrussland) 

 

Begonnen hatte die Reaktorkatastrophe mit einem routinemäßigen Turbinentest, der am Nachmittag des 25. April hätte stattfinden sollen. Es ging dabei darum, festzustellen, wie lang die Turbine bei sinkendem Dampfdruck weiterläuft. Die ukrainischen Elektrizitätswerke ersuchten jedoch um eine Verschiebung um zehn Stunden, da sie auf die Stromlieferung aus dem Atomkraftwerk angewiesen waren.

 

Man war überzeugt, den Turbinentest unter Kontrolle zu haben und vermied jede Panik. Während der komplizierten Testprozedur kam es aber um 24 Uhr zum Schichtwechsel. Das Team der Nachtschicht war allerdings nur unzureichend über den abzuwickelnden Test informiert.

 

Nun begann die Katastrophe mit einer Serie von Bedienungsfehlern ihren Lauf zu nehmen. Die Leistung fiel unter die 700-Megawatt-Grenze, der Reaktor wurde instabil. Erste Gegenmaßnahmen halfen nichts. Gegen 0.28 Uhr des 26. April fiel die Leistung auf 30 Megawatt.

 

Die Operatoren zogen nun einige Regelstäbe aus dem Reaktorkern. Die Leistung stieg gegen ein Uhr auf 200 Megawatt, um nach dem irrtümlichen Einschalten eines Kühlkreislaufes gleich wieder abzufallen. Der Reaktor hätte sich aufgrund der Instabilität längst automatisch abschalten müssen, doch damit das Experiment nicht gestört werden konnte, waren die automatischen Sicherheitssysteme außer Kraft gesetzt worden.

 

Die Ingenieure zogen weitere Regelstäbe aus den Brennelementen und drosselten die Kühlwasserzufuhr. Ihnen war ja eingebläut worden, dass ein Atomreaktor nie explodieren könne.

 

 

Genauere Details:

 

Die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl ereignete sich am 26. April 1986 in Reaktor-Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl nahe der 1970 gegründeten ukrainischen Stadt Prypjat. Auf der siebenstufigen internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse wurde sie als erstes Ereignis in die höchste Kategorie katastrophaler Unfall eingeordnet. Dies ist nicht zu verwechseln mit einem GAU (größter anzunehmender Unfall, den die Anlage noch beherrschen können muss), also dem technischen Auslegungsstörfall einer kerntechnischen Anlage.

Bei einer unter der Leitung von Anatoli Stepanowitsch Djatlow durchgeführten, am 25. April 1986 begonnenen Simulation eines vollständigen Stromausfalls kam es aufgrund schwerwiegender Verstöße gegen die Sicherheitsvorschriften sowie der bauartbedingten Eigenschaften des graphitmoderierten Kernreaktors vom Typ RBMK-1000 zu einem unkontrollierten Leistungsanstieg, der am 26. April um 1:23 Uhr zur Explosion des Reaktors und zum Brand des als Moderator eingesetzten Graphits führte.

Durch diese Leistungssteigerung im Reaktorkern erhitzten sich Kühlwasser, Graphit, Steuerstäbe und Brennstäbe enorm. Erste Explosionen fanden möglicherweise in den Brennelementen statt. Nachfolgend begannen Druckröhren zu bersten, so dass die Reaktorauslegung überschritten wurde, die maximal zwei gleichzeitig zerstörte Kanäle vorsah. Die einfahrenden Steuerstäbe erreichten nicht die Endposition, sondern wurden möglicherweise durch eine überdruckbedingte Verschiebung von Reaktorbauteilen blockiert. Das Zirconium in den Ummantelungen der Brennstäbe wie auch der Graphit konnten mit dem heißen Dampf reagieren. Wasserstoff und Kohlenmonoxid entstanden in größeren Mengen und konnten aufgrund der Beschädigungen des Reaktorkerns entweichen. Unterhalb des Reaktorgebäudedeckels bildeten diese mit dem Sauerstoff der Luft ein explosives Gemisch aus Knallgas, das sich vermutlich entzündete und zu einer zweiten Explosion nur Sekunden nach der nuklearen Leistungsexkursion führte. Welche Explosion zum Abheben des über 1000 Tonnen schweren Deckels des Reaktorkerns (biologischer Schild) führte, ist unklar. Außerdem zerstörten die Explosionen das (nur als Wetterschutz ausgebildete) Dach des Reaktorgebäudes, sodass der Reaktorkern nun nicht mehr eingeschlossen war und direkte Verbindung zur Atmosphäre hatte. Der glühende Graphit im Reaktorkern fing sofort Feuer. Insgesamt verbrannten während der folgenden zehn Tage 250 Tonnen Graphit, das sind etwa 15 Prozent des Gesamtinventars.

Innerhalb der ersten zehn Tage nach der Explosion wurde eine Radioaktivität von mehreren Trillionen Becquerel in die Erdatmosphäre freigesetzt. Die so in die Atmosphäre gelangten radioaktiven Stoffe, darunter die Isotope Caesium-137 mit einer Halbwertszeit von rund 30 Jahren und Jod-131 (Halbwertszeit 8 Tage), kontaminierten infolge radioaktiven Niederschlags hauptsächlich die Region nordöstlich von Tschernobyl sowie durch Windverfrachtung viele Länder in Europa. Nach der Katastrophe begannen sogenannte Liquidatoren mit der Dekontamination der am stärksten betroffenen Gebiete. Unter der Leitung des Kurtschatow-Instituts errichtete man bis November 1986 einen aus Stahlbeton bestehenden provisorischen Schutzmantel, der meist als „Sarkophag“ bezeichnet wird.

Über die weltweiten gesundheitlichen Langzeitfolgen, insbesondere jene, die auf eine gegenüber der natürlichen Strahlenexposition erhöhte effektive Dosis zurückzuführen sind, gibt es seit Jahren Kontroversen. Die WHO hält in einem gemeinsam mit den Vereinten Nationen und der Internationalen Atomenergie-Organisation erstellten Bericht insgesamt weltweit ca. 4000 Todesopfer vor allem durch Krebserkrankungen für möglich. Direkte der Katastrophe zugeschriebene Todesfälle, größtenteils infolge von akuter Strahlenkrankheit, gab es laut diesem Bericht weniger als 50. Die mittelbaren und statistisch ermittelten Todesopferzahlen werden dagegen wesentlich höher beziffert. Die IPPNW bringt in einem Report von 2016 Hunderttausende Todesfälle statistisch in Verbindung mit der Nuklearkatastrophe. Unter gesundheitlichen Spätfolgen leiden demnach Millionen Menschen. Der im Jahr 2008 veröffentlichte Bericht der UNSCEAR kam hingegen zu dem Schluss, dass zu diesem Zeitpunkt insgesamt 43 Todesfälle auf den Reaktorunfall zurückzuführen waren.

Als wesentlichster Effekt wurde in den stark kontaminierten Gebieten um Tschernobyl das vermehrte Auftreten von Schilddrüsenkrebs beobachtet, einer Krebsform mit sehr guter Prognose. Dieses vermehrte Auftreten hätte mit einfachen medizinischen Mitteln, durch eine sog. Jodblockade, von der damaligen Regierung verhindert werden können.

Der damalige Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSUMichail Sergejewitsch Gorbatschow, bezeichnete 1986 in einer öffentlichen Stellungnahme die westliche Berichterstattung über das Unglück mit angeblich Tausenden von Toten als „zügellose antisowjetische Hetze“ und rief in der Rede zur internationalen Zusammenarbeit im Bereich der friedlichen Nutzung der Kernenergie auf.

2006 schreibt Gorbatschow in einem Buch, Tschernobyl sei vielleicht mehr noch als seine Perestroika die wirkliche Ursache für den Zusammenbruch der Sowjetunion.

 

Grundwissen

Halbwertszeit ist die Zeit, in der sich die Strahlenintensität auf die Hälfte reduziert.

Isotope sind chemische Elemente mit fester Ordnungszahl, aber verschiedenen Massenzahlen. Dementsprechend enthalten alle Isotope eines Elementes dieselbe Anzahl von Protonen im Kern, während die Anzahl der Neutronen je nach Isotop variiert.

Kernspaltung: Beim Beschuss von schweren Atomkernen mit Neutronen spalten sich diese Atomkerne zu zwei leichteren Atomkernen unter Abgabe von großen Energiemengen und von einem bis drei Neutronen. Diese Neutronen können wiederum einen oder mehrere weitere Atomkerne spalten: Es entsteht eine Kettenreaktion. Bevorzugt werden für die Kernspaltung Uran-235, Plutonium-239 und Uran -233 verwendet.

Kettenreaktion: Für das Zustandekommen einer Kettenreaktion ist eine bestimmt Masse an spaltbarem Material notwendig. Bei  Plutonium-239 ist die kritische Masse beispielsweise 5,6 kg.

Moderator: Um die Kettenreaktion nicht unkontrolliert, d. h. explosionsartig wie bei einer Atombombe ablaufen zu lassen, muss ein gewisser Teil der Neutronen von bestimmten Materialien absorbiert werden. Dazu verwendet man im Atomkraftwerk absorbierendes Material, z. B. Bor oder Graphit. Zur Spaltung von U-235 sind nur Neutronen mit geringer Energie (= „langsame Neutronen“) tauglich. Um die Neutronen zu „bremsen“, benötigt man so genannte Moderatoren, z. B. Wasser oder Graphit.

Durch Kernspaltung einerseits und Aktivierung andererseits entstehen im Atomreaktor verschiedene Arten von Isotopen unterschiedlicher Lebensdauer. Weil sie von der Kernspaltung stammen, werden sie auch „Spaltprodukte“ genannt. Im Inventar eines Atomkraftwerkes finden sich daher radioaktive Isotope, wie z. B. das Edelgas Krypton-85, Cäsium-137, Strontium-90, auch leichtflüchtige radioaktive Jod-Isotope, und viele andere. Außerdem kann Plutonium-239 durch Neutronen-Einfang aus Uran-238 entstehen.

Bei der Kernspaltung freigesetzte Wärme wird im Atomkraftwerk in elektrische Energie umgewandelt. 

 

Ursachen der Katastrophe

Die Katastrophe ereignete sich bei einem unter der Leitung von Anatoli Stepanowitsch Djatlow durchgeführten Versuch, der einen vollständigen Ausfall der externen Stromversorgung des Kernreaktors simulieren sollte. Dieser Versuch sollte den Nachweis erbringen, dass in der Anlage selbst durch den Nachlauf der Hauptturbine genügend elektrische Energie produziert wird, um die bei einem Stromausfall weiterhin benötigten Kühlsysteme bis zum Anlaufen der Dieselgeneratoren versorgen zu können.

Als Hauptursachen für die Katastrophe gelten:

Erstens die bauartbedingten Eigenschaften des Kernreaktors, der mit Graphit moderiert wird, der im niedrigen Leistungsbereich instabiles Verhalten zeigt. (Ein Moderator (lat. moderare ‚mäßigen‘) dient dazu, freie Neutronen, die bei ihrer Freisetzung meist relativ energiereich (also schnell) sind, abzubremsen. Die Abbremsung erfolgt dabei durch wiederholte elastische Streuung an leichten Atomkernen, also solchen von Nukliden niedriger Massenzahl (siehe auch elastischer Stoß). Die vom Neutron abgegebene Energie wird als Rückstoß vom getroffenen Atomkern aufgenommen).

Zweitens schwerwiegende Verstöße der Operatoren gegen geltende Sicherheitsvorschriften während des Versuchs, insbesondere der Betrieb des Reaktors in diesem instabilen Leistungsbereich.

Kennzeichnend für diesen Reaktortyp ist ein stark positiver Dampfblasen-Koeffizient. Bilden sich im Kühlwasser Dampfblasen – zum Beispiel wegen einer lokalen Leistungssteigerung an einer Stelle im Reaktor oder wegen Druckverlusts im Reaktor nach dem Platzen eines Rohres –, so erhöht sich die Reaktivität im Reaktor. Grund hierfür ist, dass sich die Neutronenabsorption des Kühlwassers entsprechend der Dampfblasenbildung reduziert, während zugleich die Moderationswirkung des im Reaktor verbauten Graphits erhalten bleibt. Bei den meisten anderen kommerziellen Reaktortypen ist hingegen der Dampfblasen-Koeffizient negativ, weil dort das Kühlwasser zugleich als Moderator dient. Kommt es bei diesen zur Dampfblasenbildung, reduziert sich die Reaktivität und damit auch die Wärmeproduktion.

Beim Unglücksreaktor wurde der Dampfblasen-Koeffizient zudem durch den fortgeschrittenen Abbrand des Kernbrennstoffs weiter erhöht. Weiterhin wurde die Einhaltung der betrieblichen Reaktivitätsreserve (minimal erforderliche Reaktivitätsbindung durch hinreichend in den Reaktor eingefahrene Steuerstäbe) nicht vom automatischen Reaktorsicherheitssystem überwacht. Stattdessen war sie lediglich in den Betriebsvorschriften vorgegeben. Tatsächlich war der vorgegebene Minimalwert der Reaktivitätsreserve bereits Stunden vor Beginn des Versuchs unterschritten – der Reaktor hätte abgeschaltet werden müssen. Außerdem hatte die Betriebsmannschaft bestimmte Sicherheitssysteme abgeschaltet, um im Bedarfsfall den Versuch wiederholen zu können. Die automatisch arbeitenden Sicherheitssysteme hätten das ansonsten planmäßig verhindert, indem sie während des Versuchs eine Schnellabschaltung auslösten.

Die endgültige Auslösung der explosionsartigen Leistungsexkursion ist wahrscheinlich auf eine weitere konstruktive Besonderheit des Steuerstabsystems zurückzuführen: ein Großteil der Steuerstäbe hat an ihrem unteren Ende Graphitspitzen, die beim Einfahren aus der oberen Endlage zunächst eine positive Reaktivitätszufuhr (Leistungssteigerung) in Höhe eines halben β bewirken; eine Leistungsminderung bewirken sie erst bei größerer Einfahrtiefe.

Als der Schichtleiter Alexander Akimow schließlich Leonid Toptunow befahl, manuell die Reaktorschnellabschaltung  („Notfallschutz der 5. Kategorie“) auszulösen, trat genau dieser Effekt ein: Viele Stäbe fuhren gleichzeitig ein und ihre Graphitspitzen führten dadurch dem Reaktor sogar noch mehr Reaktivität zu. Der wurde prompt überkritisch, das heißt, die Kettenreaktion der Kernspaltungen lief auch ohne verzögerte Neutronen immer schneller und war daher nicht mehr regelbar. Die Leistung stieg innerhalb von Sekundenbruchteilen auf ein Vielfaches (vermutlich das Hundertfache) der Nennleistung an. Schlagartig verdampften große Mengen Kühlwasser, und der dabei entstehende hohe Druck ließ den Reaktor bersten. Zudem bildeten sich bei den hohen Temperaturen durch chemische Reaktionen des Wasserdampfs mit den weiteren Reaktorkomponenten (insbesondere Graphit-Moderator und Metall) Wasserstoff und Kohlenmonoxid, die sich kurz darauf mit Luft mischten, was zu einer zweiten Explosion führte.

Eine weitere Schwäche des RBMK-Designs als Druckröhrenreaktor war das Fehlen eines Sicherheitsbehälters. Unklar ist allerdings, ob ein solcher den Explosionen standgehalten hätte.

Wesentlich zum Zustandekommen des Unfalls beigetragen hat die Verschiebung des Versuchs um rund einen halben Tag. Die lange Haltezeit auf Teillast führte zu einer Anreicherung des Reaktors mit neutronenabsorbierendem Xenon-135. Durch die Xenonvergiftung wurde das neutronenphysikalische Verhalten des Reaktors wesentlich komplexer und unübersichtlicher.

 

Geplanter Versuchsablauf

Auch ein abgeschaltetes Kernkraftwerk ist auf die Versorgung mit elektrischer Energie angewiesen, beispielsweise zur Aufrechterhaltung der Kühlung und für die Instrumentierung und Überwachung. Im Normalfall wird der Eigenbedarf eines abgeschalteten Kraftwerks aus dem öffentlichen Energieversorgungsnetz oder von Nachbarblöcken gedeckt. Ist das nicht möglich, laufen Notstromaggregate an. Jedoch benötigen diese eine gewisse Zeit, bis sie ausreichend Strom produzieren.

Im Rahmen einer wegen Wartungsarbeiten anstehenden Abschaltung des Reaktors sollte nun gezeigt werden, dass die Rotationsenergie der auslaufenden Turbinen bei gleichzeitig unterstelltem Netzausfall ausreicht, die Zeit von etwa 40 bis 60 Sekunden bis zum vollen Anlaufen der Notstromaggregate zu überbrücken. Nach Sicherheitsvorschriften hätte der Versuch eigentlich bereits vor der kommerziellen Inbetriebnahme im Dezember 1983 durchgeführt werden sollen. Jedoch waren die finanziellen Anreize für die Projektleiter für die rechtzeitige Inbetriebnahme so hoch, dass dieser eigentlich erforderliche Sicherheitstest erst nachträglich durchgeführt wurde.

Ein im Block 3 des Kraftwerks bereits durchgeführter analoger Versuch war 1985 gescheitert, da die Spannung des Generators an der Hauptturbine zu schnell abfiel, so dass die Stromversorgung aus dem Generator nicht gereicht hätte, die Zeit bis zum Anspringen und Hochfahren der Notstromaggregate zu überbrücken. Nun sollte der Versuch im Block 4 mit einem verbesserten Spannungsregler wiederholt werden.

Es war vorgesehen, den Versuch bei reduzierter Reaktorleistung (zwischen 700 und 1000 MWthermisch) durch Schließung der Dampfzufuhr zu den Turbinen einzuleiten.