20. Oktober 2021: Nirgendwo macht sich der Klimawandel so dramatisch bemerkbar wie in der arktischen Region

 

Wenn sich in der Tschuktschensee vor Alaska die Herbststürme ankündigen, hoffen die Ureinwohner von Shishmaref auf das Beste. Viel mehr bleibt den Inupiat nicht übrig, weil die US-Regierung hartnäckig deren Wunsch ignoriert, ihre Häuser auf das Festland umzusiedeln. Die 600 Inselbewohner hatten 2001 bis 2016 mehrheitlich dafür gestimmt, seit der Klimawandel ein Leben auf der vorgelagerten Insel nördlich der Beringstraße zu einem nicht kalkulierbaren Risiko macht.

 

Weil das arktische Meer immer später im Jahr zufriert, wird die Insel im Herbst nicht mehr durch die Eisschicht geschützt. Die Stürme peitschen dann meterhohe Wellen an Land, die Shishmaref Stück für Stück im Meer verschwinden lassen. Vergangenen November spülte das Wasser die Verbindungsstraße weg, die das Dorf mit einer Lagune verbunden hatte, auf der die Inupiat ihren Müll entsorgen.

 

Sally Russell Cox hilft im Auftrag des Staates Alaska dem Dorf, Pläne für die Umsiedelung zu entwickeln. Doch sie befürchtet: „Geld fließt erst, wenn es zu einer Katastrophe kommt.“ Bislang hat sich wenig getan in Shishmaref. Wie auch nicht in den benachbarten Gemeinden Shaktoolik, Nowtok, Kivalina sowie den übrigen 27 Orten an der Nordwestküste Alaskas, deren Existenz laut eines Berichts des Rechnungshofs des US-Kongresses durch den Klimawandel bedroht ist.

 

Bei den Betroffenen besteht der Verdacht, dass kein Präzedenzfall für rund 3,7 Millionen Menschen geschaffen werden soll, die in Regionen der USA leben, die vom steigenden Meeresspiegel gefährdet sind. Es sind allesamt Opfer der Erderwärmung, die nirgendwo so deutlich zu spüren ist wie in der Arktis. Alle zehn Jahre steigen die Temperaturen hier im Schnitt um ein Grad Celsius an. Wobei durch immer größere eisfreie Wasserflächen ein Rückkopplungseffekt entsteht, der die Erwärmung beschleunigt.

 

Für Klimaforscher stellt sich nicht mehr die Frage, ob das Polarmeer einmal eisfrei sein wird, sondern nur noch, wann es so weit ist. Verschiedene Studien lassen einstimmig erwarten, dass dieser Punkt vielleicht 2035 erreicht wird.

 

Die US-Regierung reagiert nicht nur aus Sicht der Betroffenen in der Region zu spät. Sie hat aus Sicht von Experten auch die geostrategischen Konsequenzen des Klimawandels im Polarkreis verschlafen. Während sich Russland und China seit Jahren aktiv auf die Öffnung neuer Schifffahrtsrouten auf die Ausbeutung von Bodenschätzen vorbereiten, wachte Washington erst kürzlich auf. Genauer gesagt war es das von Ex-Präsident Donald Trump geäußerte Interesse, Grönland zu kaufen, das die Aufmerksamkeit der Amerikaner auf die Region richtete. Sowohl die Nordostpassage, die vor der arktischen Küste Russlands verläuft, als auch die Nordwestpassage entlang der kanadischen Küste versprechen, die Handelswege von Asien nach Europa drastisch zu verkürzen. Was die Begehrlichkeiten Chinas erklärt, die neue Polarroute zum Teil ihrer neuen Seidenstraße zu machen.

 

Damit Containerschiffe sicher durch das Eismeer fahren können, benötigten sie weiterhin Eisbrecher. Die USA hängen hier so weit hinterher, dass sie im vergangenen Jahr Manöver der Küstenwache absagen mussten, weil einer ihrer insgesamt fünf Eisbrecher ausfiel.

 

China versucht sich in Grönland den Zugriff auf die Ausbeutung seltener Erden und Metalle zu sichern, während Russland, die USA und Kanada auf leichteren Zugang und Transport von Erdöl und Gas hoffen. Laut der „United States Geological Survey“ dürften unter dem schmelzenden Eis der Arktis ein Viertel der noch unentdeckten Erdöl- und Erdgasvorkommen der Welt schlummern. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf dem Westsibirischen Becken, dem östlichen Barentsbecken und dem arktischen Alaska.

 

Die Konfliktpotenziale zwischen den Großmächten liegt auf der Hand. Womit dem Arktischen Rat eine neue Bedeutung zukommt. Diesem gehören neben Island, Schweden, Finnland, Dänemark, Norwegen und Kanada auch die Vereinigten Staaten und Russland an. China hat Beobachterstatus. Bei dem jüngsten Treffen im Mai warnte US-Außenminister Antony Blinken vor der Gefahr einer militärischen Aufrüstung am Nordpol. Er äußerte die Sorge, dass verstärkte militärische Aktivitäten  in der Arktis die „Gefahr von Zwischenfällen“ erhöhen und das „gemeinsame Ziel einer friedlichen und nachhaltigen Zukunft der Region“ gefährden. Damit kommt die NATO auf den Plan und auch die Europäische Union versucht, eine eigene Strategie für die Region zu entwickeln.

 

Während die USA nun mit massiven Investitionen ihre eigene Flotte wieder aufbauen und ihre U-Boot-Aktivitäten im Nordmeer verstärken, warten die Inupiat von Shishmaref und anderen gefährdeten Orten in Alaska weiter vergeblich auf Hilfe. Das Weiße Kreuz an einer Grabstelle auf dem Friedhof von Shishmaref erinnert an den Preis der Untätigkeit. Hier ruht Norman Kokoeok, der vermutlich erste Klimatote Alaskas. Der 25-Jährige kam am 2. Juni 2007 bei der Entenjagd mit seinem Freund ums Leben. Sein Schneemobil brach auf dem Eis ein, das wegen der Erderwärmung für die Jahreszeit viel zu dünn war.