1. August 2020: Die Wende zum Weniger

 

Wir brauchen ein neues, bescheideneres Lebensmodell. Unsere bisherige Form des Wirtschaftens hat in der Natur zerstörerisch gewirkt. Nun bietet sich Corona als Chance zur Wende an. Die Ausrede, dass etwas wegen vermeintlicher Sachzwänge nicht möglich sei, akzeptieren viele Bürgerinnen und Bürger nicht mehr. Wir können jetzt sogar feststellen, dass das Verlangen zunimmt, es müsse gesetzlich festgeschrieben werden, dass die Menschen ein Recht auf eine intakte Umwelt haben.

 

Der Schriftsteller Ferdinand von Schirach spricht sich dafür aus, dass wirtschaftliche Interessen stets und an jedem Ort in dieser Welt hinter den universalen Menschenrichten zurücktreten müssten.

 

Stetig fortschreitendes materielles Wirtschaftswachstum würde zu immer ungehemmterer Ausbeutung der Erde führen. Immer mehr Menschen wollen daher, dass gesetzlich festgeschrieben wird, ein Recht auf eine intakte Umwelt zu haben. Die Erkenntnis setzt sich durch, dass ein neues, bescheideneres Lebensmodell anzustreben ist.

 

Das heißt: Das globale Gemeinwohl soll in Zukunft an erster Stelle stehen

 

Das funktioniert aber nicht ohne ein Mindestmaß an globalem Regieren. Noch in den 1990er Jahren sind dafür spektakuläre Ideen entwickelt worden. Es hieß, dass man eine Weltregierung bilden, ja sogar eine kosmopolitische Demokratie entwerfen könne, um weltumspannende Probleme zu lösen. 

 

Zwei, drei Jahrzehnte später geht der Trend genau in die Gegenrichtung: Der Nationalstaat dominiert wieder die internationale Szene. Gerade die Großmächte USA und China setzen oftmals nicht auf Kooperation, sondern auf die strikte Durchsetzung des eigenen Standpunkts.

 

So müssen mittelgroße demokratische Staaten, von Kanada über die EU-Mitgliedsländer bis Australien, versuchen, die Fahne des Multilateralismus hochzuhalten und internationale Vereinbarungen voranzubringen.

 

Diese Allianz kann sich auch dafür einsetzen, im UNO-System neben dem oft gelähmten Sicherheitsrat einen starken Wirtschaftsrat zu etablieren, der die ökonomischen und sozialen Probleme auf dem Planteten regelt. Ein Zusammenschluss der Städte könnte dabei helfen, grenzüberschreitende Fragen in vernetzter Form anzupacken. Ein „Weltparlament der Bürgermeister“ ist bereits gebildet worden.

 

Die globale Zivilgesellschaft muss die Weltmächtigen mehr denn je auf Trab bringen. In beinahe 100 Ländern hätten sich schon im vergangenen Jahrzehnt Millionen Menschen auf den Straßen und Plätzen zu Massenprotesten versammelt, vermerkt der Politikforscher Ivan Krastev. Die „Platz-Menschen“ (square people) seien inzwischen zu einer Konstante in der Weltpolitik geworden.

 

Es ist beinahe ein halbes Jahrhundert her, dass hellsichtige Experten vor dem kommenden kritischen Zustand unseres Planeten gewarnt haben. Plausibel erscheint etwa die Prognose, die der „Club of Rome“ 1972 in seinem Bericht über die „Grenzen des Wachstums“ formuliert hat: Wenn Bevölkerungswachstum und Industrie auf der Welt weiter zunehmen, gehen die nicht erneuerbaren Rohstoffe bald zur Neige, während die Umweltverschmutzung irreparabel wird. Die Welt stehe vor der Alternative, “Ende oder Wende“, mahnte Erhard Eppler, grüner Vordenker der SPD. Seine Partei zerstritt sich seinerzeit noch über die Frage, ob Umweltschutz nicht im Gegensatz stehe zum Gedeihen der Industriegesellschaft – statt  Ökonomie und Ökologie zusammenzudenken.

 

Jeder, der diese Studien liest, sieht sogleich, wie viel Zeit vergeudet worden ist. Statt umzusteuern, hat die Menschheit die Erde in der Lebensspanne von zwei Generationen an den Rand des Kollapses gebracht.

 

Einfach nicht mehr weitergehen kann eine Epoche stetig steigenden Wirtschaftswachstums, das auf immer ungehemmterer Ausbeutung der Erde beruht.

 

Expansion und Extraktion fänden ihr Ende, analysiert die Ökonomin Maja Göpel, wenn der Natur die Fähigkeit genommen werde, sich verlässlich zu regenerieren. Die Welt stoße an „Kipp-Punkte“ oder „planetare Grenzen“.

 

Die in die Höhe schießende Erdölförderung ist der Treiber des rasanten wirtschaftlichen Wachstums gewesen. Technologie und Märkte erlaubten vielen Menschen einen so hohen Lebensstandard wie nie zuvor, hinterließen aber beispiellose Zerstörungen. Fossile Brennstoffe heizten die Atmosphäre immer stärker auf. Die Folgen dieser Klimakrise bedrohen längst das Leben auf unserem Planeten. Zum Beispiel, wenn in Marokko die Oasen immer stärker schrumpfen und die Ver-Wüstung des Landes voranschreitet.

 

Rapide wachsender Konsum auf dem Globus bewirkt, dass die Zivilisation immer weiter in unberührte Natur vordringt. Illegale Brandrodungen vernichten im Regenwald, der „grünen Lunge“ der Erde, jede Minute eine Fläche, die so groß ist wie 30 Fußballfelder. Die Kombination von Holzeinschlag, Monokulturen, Pestiziden und der Verschmutzung der Meere mit Plastikmüll reduziert die Biodiversität enorm, sie lässt Tausende Arten sterben.

 

Das Generieren materiellen Wohlstands muss also abgekoppelt werden von exzessivem Umweltverbrauch. Am dringendsten ist der Umstieg von Öl und Gas auf erneuerbare Energien, die keine Schadstoffe ausstoßen. Ein Vehikel: die ökologische Kostenwahrheit. Bisher ist der Preis für Schäden, die in der Umwelt bei der Herstellung oder Benutzung eines Produkts entstehen, in keiner ökonomischen Bilanz enthalten.

 

Das, was wir für ein Produkt bezahlen, entspricht also nicht dem, was ein Produkt in Wirklichkeit kostet. Der Flugpassagier zahlt zwar auch für das Kerosin, das die Maschine antreibt. Doch im Ticketpreis nicht inbegriffen sind die Kosten dafür, das bei diesem Flug anfallende Kohlendioxid wieder aus der Erdatmosphäre zu entfernen. Die wahren Kosten unseres Wohlstands halsen wir bisher anderen auf – den armen Menschen auf dem Globus, die sich die Anpassung an den Klimawandel nicht leisten können; den Bewohnern von Inselstaaten, die durch steigenden Meeresspiegel wohl untergehen werden; und den künftigen Generationen, denen wir eine Welt mit kollabierter Natur hinterlassen.

 

Von einem „globalen Dorf“ ist zwar die Rede. Aber gerecht geht es in diesem Dorf nicht zu. Die britische Hilfsorganisation Oxfam rechnet vor, dass es acht Menschen auf der Welt gibt, die genau so viel besitzen wie die gesamte arme Hälfte der Menschheit. Zehn Prozent der Menschen verfügen weltweit über mehr als 90 Prozent des Vermögens. Der Wohlstand der Industriestaaten baue in beträchtlichem Maße auf der Ausbeutung von Mensch und Natur in den armen Staaten auf, beklagt der deutsche Entwicklungshilfeminister Gerd Müller. Für ein Kilo Kaffee zahlen wir in Wien oder München acht bis zehn Euro. Aber nur fünf bis acht Prozent des Endpreises kommen bei den Kleinbauern in Afrika oder Lateinamerika an. Auch Näherinnen in Bangladesch oder Äthiopien schuften für Hungerlöhne, damit wir preisgünstige Textilien haben.

 

Aber der schlechteste Status quo lässt sich zum Besseren wenden. Fairer Handel sorgt dafür, dass immerhin 25 Prozent des Endpreises bei den Familien in den Kaffee-Anbauländern bleiben. Lieferkettengesetze der europäischen Staaten können sicherstellen, dass bei der Produktion in den armen Staaten soziale und ökologische Standards eingehalten werden.

 

Wir Konsumenten sollten künftig in den Supermärkten zu zertifizierter Ware greifen, die frei von Ausbeutung ist.   

 

 

 

Quelle: Ab dem zweiten Absatz ("Das heißt: Das globale Gemeinwohl...") ist der obige Artikel, der von Helmut Müller verfasst worden ist und in den "Salzburger Nachrichten" vom 1. August 2020 erschienen ist, wortwörtlich übernommen.